Schuhe.
Was sind Schuhe? Sie bekleiden die Füße von Menschen oder anderen anthropomorphisierten
Wesen. Füße hat der ideale Mensch meistens zwei, deswegen braucht dieser auch
zwei Schuhe, ein Paar. Undenkbar also fast ein einzelner Schuh z.B. im Verkauf
oder im Gebrauch – dort fehlt etwas, der andere Schuh. Der der tragenden Person
und zu dem anderen Schuh passen sollte. Auch andere Körperteile hat der Mensch
zwei, wie z.B. die Beine – da das sie einzeln bekleidende Bekleidungsstück im
Singular Hose heißt, und so die einzeln umhüllten Teile zusammengefasst werden,
stehen die Schuhe im benötigten Plural außen vor: dies betont aber die
Wichtigkeit, Eigenständigkeit, der einzelnen Teile, nur durch zwei Schuhe ist
der Mensch mobil. Die Hose zum Beispiel wird im Englischen auch a pair of trousers bezeichnet – obwohl
es nur eine Hose ist – die
Eigenständigkeit von Körpergliedern und Umhüllungen müssen also nicht immer vom
Betrachtenden betont werden. Schuhe werden also so produziert, dass sie als
Paar verkauft werden können, das entspricht ihrem Wesen, jedenfalls ihrem vom
Menschen gemachten. Im Ursprung hat jeder Schuh einen Partner, auch wenn dieser
verloren gehen kann. Aber komplett identisch sind die Schuhpartner nicht: So
sind sie spiegelverkehrt, sind polarisiert die andere Seite, ein linker Schuh
und ein rechter Schuh für die entsprechenden Füße. Auch gibt es
Sonderanfertigungen für Füße, die selbst nicht symmetrisch-gleich sind: auch
wenn man dies vielleicht von außen nicht sieht, sondern sich dies im Inneren
des Schuhs, wie zum Beispiel durch Sohlen, abspielen kann. Aber sonst ist bei
gleichen Schuhen meist eines gleich: das Design, die Farbigkeit, die Muster,
das Material. Oder sie sind nicht gleich, reagieren aber auf den Partner. Zu
eigenwillig in der Oberfläche oder die Form kann aber nicht sein, sonst würde die
Gesellschaft behaupten, dass der oder die Tragende Schuhe aus verschiedenen
Paaren falsch, unpassend kombiniert hat – oder es könnte technisch gar nicht
gelaufen werden.
Schuhpartner
sind sich also optisch ähnlich, wenn auch seitenverkehrt und – durch ihren
Ursprung in der menschlichen Produktion – entspricht es ihrem Wesen, ein Paar
zu sein bzw. als solches aufzutreten oder verwendet zu werden. Die durch van
Gogh abgebildeten, gemalten Schuhe, sind sie auch ein Paar? Das Gemälde scheint
auf den ersten Blick nichts anderes abzubilden als die Paarhaftigkeit dieser
Schuhe. Nichts anderes ist zu sehen, nur der relativ ebene Boden, auf dem sie
stehen. Nebeneinander positioniert, so nah, dass sie wie gerade abgestellt und
zum Tragen bereit als verfügbares Paar ausruhen. Räumlich wird so eine
Zusammengehörigkeit konstituiert. Auch beruhigt das Bild durch die
Gleichmäßigkeit der Farbigkeit, alles in Brauntönen, sodass kein Kontrast das
Einheitsgefühl stört. Auch die einzelnen Schuhe, sie wirken beide ausgebeult,
dunkelbraun, mit offenen Schnürsenkeln. Der linke Schuh, aus der
Betrachterposition rechts, ist aufgrund seiner Form als linker Schuh zu identifizieren.
Folglich müsste also der andere Schuh der rechte sein, man müsste eigentlich
nur den einen Schuh genauer in den Details betrachten, um eine Erwartungshaltung
auf den anderen Schuh projizieren zu können: So muss der andere Schuh aussehen,
genauso, bloß eben ein rechter Schuh und kein linker, die Form also leicht
abgeändert, aber auch dies kann man optisch vorberechnen. Ein paar
Ungleichheiten würde man dem anderen Schuh noch zugestehen, abgenutzte Stellen,
die nicht symmetrisch wiederzufinden sind: so gehen sie zwar rhythmisch den
gleichen Gang, berühren aber andere Orte des jeweiligen Bodens und stoßen
vielleicht auf andere Hindernisse. Ein Kaugummi auf der Straße, welches sich in
der Schuhsohle festbeißt, liegt nur selten so, dass wirklich beide Schuhpartner
dieses mit ihrer exakt gleichen Schuhkörperstelle berühren und so beeinflusst
und verändert werden. Aber diese Erwartungshaltung, Projektion von einem van
Gogh-Schuhpartner auf den anderen, gelingt nicht: der auf dem Bild linke Schuh
ist nicht eindeutig als rechter Schuh identifizierbar, er ist sogar so
ausgebeult, dass er ebenso ein linker sein könnte. Außerdem ist der den Knöchel
bedeckende Bereich nach unten geklappt – beim anderen hochgestellt – was eine
offensichtlich verschiedene Verwendung der tragenden Person darstellt. Würde
ein Mensch ein Paar Schuhe, die eigentlich gleich sind, so tragen, in den
Tragemöglichkeiten so formen, dass sie nicht mehr optisch ähnlich sind,
asymmetrisch? Wäre das nicht eine Entfremdung? Außerdem ist die Bindeweise der
Schnürsenkel nicht äquivalent, der eine ist locker, wie für einen großen Fuß,
der andere eng geschnürt. Gibt es Menschen mit zwei so unterschiedlich großen
Füßen? Von der Materialoberfläche – soweit das Medium dies wiedergeben kann,
obwohl man sich hier auch auf den ähnlichen Pinselduktus beziehen könnte – sind
sie sich optisch ähnlich. Sie passen zusammen. Aber ist es so, dass sie
füreinander bestimmt sind? Hat sie einmal eine Person imaginiert und dann
materialisiert, um als Paar zu funktionieren? Und wenn dies so ist, haben sie
sich auseinandergelebt? Auch wenn sie den gleichen Weg gingen, mussten sie
vielleicht verschiedene Ansprüche erfüllen oder wurden ungleich behandelt. Und
so sind sie noch: man sieht den gleichen Ursprung, aber eine Entfremdung durch
das partnerschaftliche Leben in der Welt. Leichte Asymmetrien, zusätzlich zu
denen, die sich eigentlich nur als Spiegelbild wiederholen. Aber was ist, wenn
es umgekehrt ist? Wenn diese Schuhe gar keine ursprünglichen Partner sind,
sondern nur zusammengeführt wurden? Das romantische Ideal der platonischen
Kugelmenschen mit dem zugehörigen Partner muss selbst bei Schuhen nicht
stimmen. Vielleicht sind sie ein Paar, weil sie aufgrund von Ähnlichkeiten
zusammengeführt wurden, die Potential bieten, und sich so immer mehr einander
angeglichen haben durch den Gebrauch, das gemeinsame Leben. Oder sie wurden
schlicht inszeniert, Schauspieler, die durch eine Zusammenstellung auf einem
Bühnenraum ein Paar mit Zusammengehörigkeit und gemeinsamer Geschichte
vorspielen, obwohl sie es nicht sind, gecastet, um zumindest ansatzweise das
Bedürfnis des Betrachters oder der Betrachterin zu erfüllen. Ob diese Schuhe
einen gemeinsamen Weg gingen oder diesen noch gehen werden, ist unklar,
genauso, wie ob sie dazu erdacht wurden, ob sie jemand neu dazu erdenkt – auf
jeden Fall hat jeder Schuh sein eigenes Leben, wobei er – zumindest von außen –
ein kleines Spiel mit einem ähnlichen, potentiellen Partner spielt.
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