Mittwoch, 21. November 2012

Schuhpartner im Schuhpaar. Wie verhalten sich die einzelnen Schuhe bei van Gogh?

unter http://ariapars.persiangig.com/van%20gog/2.JPG (abgerufen am 21.10.12) fand ich dieses Bild, "Schuhe mit Schnürsenkeln" von Vincent van Gogh, 1886. Eigentlich bekam ich einen Audruck davon, um als Aufgabe für das Projektseminar darüber zu schreiben, ob diese Schuhe ein Paar (Liebe?) sind. Hier das Ergebnis.

Schuhe. Was sind Schuhe? Sie bekleiden die Füße von Menschen oder anderen anthropomorphisierten Wesen. Füße hat der ideale Mensch meistens zwei, deswegen braucht dieser auch zwei Schuhe, ein Paar. Undenkbar also fast ein einzelner Schuh z.B. im Verkauf oder im Gebrauch – dort fehlt etwas, der andere Schuh. Der der tragenden Person und zu dem anderen Schuh passen sollte. Auch andere Körperteile hat der Mensch zwei, wie z.B. die Beine – da das sie einzeln bekleidende Bekleidungsstück im Singular Hose heißt, und so die einzeln umhüllten Teile zusammengefasst werden, stehen die Schuhe im benötigten Plural außen vor: dies betont aber die Wichtigkeit, Eigenständigkeit, der einzelnen Teile, nur durch zwei Schuhe ist der Mensch mobil. Die Hose zum Beispiel wird im Englischen auch a pair of trousers bezeichnet – obwohl es nur eine Hose ist – die Eigenständigkeit von Körpergliedern und Umhüllungen müssen also nicht immer vom Betrachtenden betont werden. Schuhe werden also so produziert, dass sie als Paar verkauft werden können, das entspricht ihrem Wesen, jedenfalls ihrem vom Menschen gemachten. Im Ursprung hat jeder Schuh einen Partner, auch wenn dieser verloren gehen kann. Aber komplett identisch sind die Schuhpartner nicht: So sind sie spiegelverkehrt, sind polarisiert die andere Seite, ein linker Schuh und ein rechter Schuh für die entsprechenden Füße. Auch gibt es Sonderanfertigungen für Füße, die selbst nicht symmetrisch-gleich sind: auch wenn man dies vielleicht von außen nicht sieht, sondern sich dies im Inneren des Schuhs, wie zum Beispiel durch Sohlen, abspielen kann. Aber sonst ist bei gleichen Schuhen meist eines gleich: das Design, die Farbigkeit, die Muster, das Material. Oder sie sind nicht gleich, reagieren aber auf den Partner. Zu eigenwillig in der Oberfläche oder die Form kann aber nicht sein, sonst würde die Gesellschaft behaupten, dass der oder die Tragende Schuhe aus verschiedenen Paaren falsch, unpassend kombiniert hat – oder es könnte technisch gar nicht gelaufen werden.

Schuhpartner sind sich also optisch ähnlich, wenn auch seitenverkehrt und – durch ihren Ursprung in der menschlichen Produktion – entspricht es ihrem Wesen, ein Paar zu sein bzw. als solches aufzutreten oder verwendet zu werden. Die durch van Gogh abgebildeten, gemalten Schuhe, sind sie auch ein Paar? Das Gemälde scheint auf den ersten Blick nichts anderes abzubilden als die Paarhaftigkeit dieser Schuhe. Nichts anderes ist zu sehen, nur der relativ ebene Boden, auf dem sie stehen. Nebeneinander positioniert, so nah, dass sie wie gerade abgestellt und zum Tragen bereit als verfügbares Paar ausruhen. Räumlich wird so eine Zusammengehörigkeit konstituiert. Auch beruhigt das Bild durch die Gleichmäßigkeit der Farbigkeit, alles in Brauntönen, sodass kein Kontrast das Einheitsgefühl stört. Auch die einzelnen Schuhe, sie wirken beide ausgebeult, dunkelbraun, mit offenen Schnürsenkeln. Der linke Schuh, aus der Betrachterposition rechts, ist aufgrund seiner Form als linker Schuh zu identifizieren. Folglich müsste also der andere Schuh der rechte sein, man müsste eigentlich nur den einen Schuh genauer in den Details betrachten, um eine Erwartungshaltung auf den anderen Schuh projizieren zu können: So muss der andere Schuh aussehen, genauso, bloß eben ein rechter Schuh und kein linker, die Form also leicht abgeändert, aber auch dies kann man optisch vorberechnen. Ein paar Ungleichheiten würde man dem anderen Schuh noch zugestehen, abgenutzte Stellen, die nicht symmetrisch wiederzufinden sind: so gehen sie zwar rhythmisch den gleichen Gang, berühren aber andere Orte des jeweiligen Bodens und stoßen vielleicht auf andere Hindernisse. Ein Kaugummi auf der Straße, welches sich in der Schuhsohle festbeißt, liegt nur selten so, dass wirklich beide Schuhpartner dieses mit ihrer exakt gleichen Schuhkörperstelle berühren und so beeinflusst und verändert werden. Aber diese Erwartungshaltung, Projektion von einem van Gogh-Schuhpartner auf den anderen, gelingt nicht: der auf dem Bild linke Schuh ist nicht eindeutig als rechter Schuh identifizierbar, er ist sogar so ausgebeult, dass er ebenso ein linker sein könnte. Außerdem ist der den Knöchel bedeckende Bereich nach unten geklappt – beim anderen hochgestellt – was eine offensichtlich verschiedene Verwendung der tragenden Person darstellt. Würde ein Mensch ein Paar Schuhe, die eigentlich gleich sind, so tragen, in den Tragemöglichkeiten so formen, dass sie nicht mehr optisch ähnlich sind, asymmetrisch? Wäre das nicht eine Entfremdung? Außerdem ist die Bindeweise der Schnürsenkel nicht äquivalent, der eine ist locker, wie für einen großen Fuß, der andere eng geschnürt. Gibt es Menschen mit zwei so unterschiedlich großen Füßen? Von der Materialoberfläche – soweit das Medium dies wiedergeben kann, obwohl man sich hier auch auf den ähnlichen Pinselduktus beziehen könnte – sind sie sich optisch ähnlich. Sie passen zusammen. Aber ist es so, dass sie füreinander bestimmt sind? Hat sie einmal eine Person imaginiert und dann materialisiert, um als Paar zu funktionieren? Und wenn dies so ist, haben sie sich auseinandergelebt? Auch wenn sie den gleichen Weg gingen, mussten sie vielleicht verschiedene Ansprüche erfüllen oder wurden ungleich behandelt. Und so sind sie noch: man sieht den gleichen Ursprung, aber eine Entfremdung durch das partnerschaftliche Leben in der Welt. Leichte Asymmetrien, zusätzlich zu denen, die sich eigentlich nur als Spiegelbild wiederholen. Aber was ist, wenn es umgekehrt ist? Wenn diese Schuhe gar keine ursprünglichen Partner sind, sondern nur zusammengeführt wurden? Das romantische Ideal der platonischen Kugelmenschen mit dem zugehörigen Partner muss selbst bei Schuhen nicht stimmen. Vielleicht sind sie ein Paar, weil sie aufgrund von Ähnlichkeiten zusammengeführt wurden, die Potential bieten, und sich so immer mehr einander angeglichen haben durch den Gebrauch, das gemeinsame Leben. Oder sie wurden schlicht inszeniert, Schauspieler, die durch eine Zusammenstellung auf einem Bühnenraum ein Paar mit Zusammengehörigkeit und gemeinsamer Geschichte vorspielen, obwohl sie es nicht sind, gecastet, um zumindest ansatzweise das Bedürfnis des Betrachters oder der Betrachterin zu erfüllen. Ob diese Schuhe einen gemeinsamen Weg gingen oder diesen noch gehen werden, ist unklar, genauso, wie ob sie dazu erdacht wurden, ob sie jemand neu dazu erdenkt – auf jeden Fall hat jeder Schuh sein eigenes Leben, wobei er – zumindest von außen – ein kleines Spiel mit einem ähnlichen, potentiellen Partner spielt.